Der Silbermarkt erlebt eine historische Ausnahmesituation: Die Preise für sofort verfügbares Metall liegen über den Terminnotierungen, Raffinerien stossen an ihre Grenzen, und die Leihzinsen für physisches Silber schnellen in die Höhe. Wir sprachen mit Henrik Marx, Global Head of Trading und Executive Vice President bei Heraeus Precious Metals, über Ursachen, Marktmechanismen und die Folgen für Anleger und Industrie.

Am Silbermarkt beobachten wir derzeit eine ungewöhnlich starke Backwardation – der Preis für sofort lieferbares Metall liegt also über dem Terminpreis. Wie erklären Sie sich dieses Marktbild?

Die starke Backwardation ist auf die extrem hohe Nachfrage nach sofort lieferbarem Silber zurückzuführen. Phasen hoher Nachfrage sind nichts Ungewöhnliches, die aktuelle Ausprägung ist jedoch aussergewöhnlich. Neben der hohen Nachfrage spielt auch das reduzierte Angebot eine wichtige Rolle. Erst das Zusammenspiel beider Faktoren führt zu dieser deutlichen Marktreaktion – und in der Folge zu Silberpreisen auf Allzeithoch.

In den vergangenen Wochen wurden grosse Mengen Silber physisch nach London verlagert. Welche Ursachen sehen Sie für diese Bewegung – und was sagt sie über die aktuelle Lage im physischen Markt aus?

Ähnliche Bewegungen haben wir in den letzten Monaten auch bei Gold gesehen. Hierbei spielen die Handelsplätze London und New York eine zentrale Rolle. Liegen die gehandelten Preise an der COMEX in den USA unter denen in London – und sind die Unterschiede so gross, dass sich Transportkosten lohnen –, dann wird zwischen diesen Märkten „arbitriert“. Das bedeutet: Professionelle Marktteilnehmer beschaffen Material an einem Standort und liefern es an den anderen aus.

Oft müssen die Barren zuvor über etablierte Akteure – meist in der Schweiz – umgeschmolzen werden, um den jeweiligen Handelsstandards zu entsprechen. Aktuell sehen wir eine Gegenbewegung zu den physischen Strömen der ersten Jahreshälfte: Damals hatten viele Marktakteure Silber in die USA verlagert, um möglichen Zöllen zuvorzukommen. Diese Mengen fehlen nun in London – was die Preisunterschiede verstärkt und den Rücktransport aus New York wirtschaftlich attraktiv macht.

Mehrere Raffinerien berichten, dass sie an der Kapazitätsgrenze arbeiten und sich die Durchlaufzeiten deutlich verlängert haben. Wie stellt sich die Situation aus Ihrer Sicht dar – und welche Faktoren bremsen die Verarbeitung derzeit am stärksten?

Ein Begleiteffekt der hohen Preise und Nachfrage sind die stark gestiegenen Silber-Leiheraten. Aus unserer Sicht handelt es sich weniger um ein klassisches Kapazitätsproblem der Raffinerien, sondern um eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Die Scheideanstalten müssen sehr genau abwägen, welche Aufträge sich unter den aktuellen Bedingungen noch rentabel verarbeiten lassen.
Während der Aufarbeitung werden grosse Mengen über Edelmetallleihen zwischenfinanziert – die Kosten dafür lagen früher meist zwischen ein und zwei Prozent. Momentan sind die kurzfristigen Finanzierungsraten teilweise auf über 50 Prozent gestiegen. Dadurch prüfen die Raffinerien ihre Aufträge strenger, was den Eindruck entstehen lässt, als wären die Kapazitäten ausgeschöpft.

Die Lease Rates, also die Leihzinsen für physisches Silber, sind zuletzt auf Rekordniveaus gestiegen. Wie erklären Sie sich diesen Anstieg – und welche Rückschlüsse lassen sich daraus ziehen?

Die gestiegenen Silber-Leiheraten sind ein klassisches Resultat von geringem Angebot und hoher Nachfrage. Das Angebot besteht aus frei verfügbarem, nicht allokiertem Silber in London. Die Nachfrage kommt vor allem aus der Industrie – insbesondere von Scheideanstalten –, die ihre Produktionsprozesse über Edelmetallleihen finanzieren, um das Metall nicht selbst vorhalten zu müssen.

Derzeit trifft diese hohe Nachfrage auf eine stark verringerte Liquidität am Markt. Ein Grund dafür sind die physischen Lieferungen nach New York, die Teile der sogenannten „free floating liquidity“ aus London abgezogen haben. Diese Engpässe führen nun zu den rekordhohen Leihzinsen.

Die industrielle Nachfrage – insbesondere aus der Solar-, Elektronik- und Automobilbranche – wächst stark. Entsteht dadurch eine Konkurrenzsituation zwischen Industrie und Anlegern um physisch verfügbares Metall?

Ja, diese Konkurrenz besteht zunehmend. Silber ist ein Hybridmetall – es wird sowohl als Industriemetall als auch als Anlageform stark nachgefragt. Die Interessen beider Gruppen sind gegensätzlich: Anleger hoffen auf steigende Preise, während industrielle Verbraucher genau diese Entwicklung als Kostenrisiko sehen.
Steigt die Investmentnachfrage weiter, erhöht das den Druck auf die verarbeitende Industrie. Dabei geht es weniger um die reine physische Verfügbarkeit, sondern um den Kostendruck, den hohe Preise auf die Produzenten ausüben.

Viele Marktteilnehmer gehen davon aus, dass die aktuelle Anspannung vorübergehend ist. Teilen Sie diese Einschätzung – oder deuten die jüngsten Entwicklungen darauf hin, dass sich die physische Versorgung mit Silber dauerhaft verändert?

Wir gehen davon aus, dass sich die derzeit hohen Leiheraten mittelfristig entspannen, sobald sich die Liquidität zwischen den Handelsplätzen wieder normalisiert. Eine deutliche Preiskorrektur nach unten erwarten wir jedoch nicht. Die Märkte bleiben kurzfristig volatil, doch die fundamentalen Treiber – geopolitische Spannungen, De-Dollarisierung und die robuste industrielle Nachfrage – bleiben intakt. Diese Faktoren werden den Silberpreis auch künftig stützen.

Bildquelle: Composing / pro aurum


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