Hurra, es gibt wieder Zinsen — mit diesem Jubel überschreibt eine deutsche Boulevardzeitung die vermeintliche Sensation des Jahres: Seit dem Rekordtief Mitte April hätten sich, so die Zeitung mit den vier grossen Buchstaben, die Festgeldzinsen bei manchen Banken mehr als verdoppelt. Die Zinswende ist demnach auch bei Privatkunden angekommen und auch die Sparkassen haben zuletzt nachgezogen: Nach einer Erhebung der Stiftung Warentest zahlen beim Festgeld im Juli 2022 rund die Hälfte der Sparkassen wieder Zinsen.

Wie gut die „besten Angebote“, von denen in der Berichterstattung die Rede ist, wirklich sind, hat die Stiftung Warentest errechnet — und die Zahlen sind ernüchternd: Bei Tagesgeld sind derzeit bis zu 0,25 Prozent Zinsen pro Jahr drin, beim Festgeld werden 1,30 Prozent für eine einjährige Laufzeit und 1,70 Prozent für dreijähriges Festgeld gezahlt.

Die Finanzjournalisten der süddeutschen Regionalzeitung „Südwestpresse“ schlagen in Anbetracht dieser Zahlen wenig euphorische Töne an: „Sparer sollten sich noch nicht zu früh freuen“, heisst es in einem Kommentar. Denn eigentlich seien die Zinsen noch nicht so hoch, „dass am Ende so viel mehr Geld rausspringt“. Laut der Südwestpresse würden die Zinsen aktuell nur so weit erhöht, dass sie die Preissteigerung abfedern.

Und nicht einmal das ist zutreffend — denn die Inflationsrate von knapp acht Prozent frisst jegliche Zinserhöhungen auf. Der Minibetrag, der durch die steigenden Zinsen erwirtschaftet wird, löst sich durch die weiterhin steigende Teuerungsrate in Luft auf. Die Südwestpresse resümiert: „Möglich ist natürlich, dass die Zinsen noch weiter steigen — dann sieht die Welt vielleicht doch anders aus.“

Verbraucher müssen wegen der Rekordinflation und der Mini-Zinswende derzeit an vielen Ecken und Enden draufzahlen: Nachdem die Immobilienpreise bereits auf ein Rekordhoch gestiegen sind, ziehen jetzt die Finanzierungskosten an. Im Klartext: Immer weniger Deutsche werden es sich leisten können, ein Eigenheim oder eine Wohnung zu kaufen. Und wenn bei den derzeitigen Häuslebauern die Zinsbindung ausläuft, wird es vielerorts ein böses Erwachen geben.

Neben einem Immobilienkauf verteuern sich derzeit auch Investitionen in Konsumgüter oder andere grössere Anschaffungen, die auf Kredit finanziert werden. Eigentlich wollte die Europäische Zentralbank durch die Politik des billigen Geldes die Bevölkerung zum Geldausgeben anregen. Doch nun wird es richtig teuer, „auf Pump“ zu leben und Kredite aufzunehmen: Nach Angaben der Stiftung Warentest liegen die Zinsen für Ratenkredite derzeit zwischen 1,89 und 6,70 Prozent, Tendenz deutlich steigend: Für den weiteren Jahresverlauf rechnet das Vergleichsportal mit durchschnittlichen Effektivzinsen von bis zu fünf Prozent.

Dass immer mehr Ökonomen eine Stagflation, also eine wirtschaftliche Stagnation bei massiv steigenden Lebenshaltungskosten, oder gar eine Rezession prognostizieren, erscheint vor diesem Hintergrund kaum verwunderlich. Denn Verbraucher leiden seit längerer Zeit unter den massiven Preissteigerungen in fast allen Bereichen des täglichen Lebens — und wenn sie nun eine grössere Anschaffung tätigen, müssen sie neben den sprunghaft gestiegenen Preisen für das gewünschte Produkt auch deutlich höhere Kreditzinsen stemmen.

Viele Familien werden sich deshalb überlegen, ob das neue Auto wirklich nötig ist und ob der alte Flachbildfernseher nicht auch noch ein paar Jahre weiter taugt. Die Deutschen sind geübt im Sparen — und sie werden ihr Geld zusammenhalten. Doch alles Geld, was auf dem Sparbuch landet oder als Tagesgeld angelegt wird, verliert wegen der Rekordinflation weiter massiv an Wert. Unterm Strich wird deutlich, dass sich nicht nur die Notenbanken, sondern auch die Menschen in Deutschland und Europa in einer Sackgasse befinden — und Jubel über höhere Zinsen bei Banken und Sparkassen ist nicht unbedingt angebracht.

Immer aktuell informiert: Folgen Sie pro aurum

So verpassen Sie nichts mehr! Informationen und Chartanalysen, Gold– und Silber-News, Marktberichte, sowie unsere Rabattaktionen und Veranstaltungen.
Facebook | Instagram | LinkedIn | Twitter

Der pro aurum-Shop

Die ganze Welt der Edelmetalle finden Sie in unserem Shop: proaurum.ch